„Mit dem philosophischen Blick auf die Welt, der dem künstlerischen verwandt ist, verbindet sich eine Haltung, in der Mystisches und Ethisches zusammenkommen. Wenn der Philosoph sich den Geschehnissen der Welt zuwendet, soll er dem Wunderbaren in ihr gerecht werden, er soll ihr Achtung entgegenbringen. Wenn man Wittgensteins Beschreibungen der Sprache folgt, sieht man die Welt und die Sprache in einem neuen Licht.“ (Gunter Gebauer)

 

Diese Haltung, so schildert Gunter Gebauer in dem – von ihm komponierten, mit Ulrich Matthes gesprochenen  und gemeinsam mit dem Deutschlandfunk realisierten – Hörbuch,  Ludwig Wittgenstein. Im Fluss des Lebens und der Sprache, musste sich Ludwig Wittgenstein – österreichisch-britischer Philosoph, der am 26. April 1889 in Wien geboren wurde und am  29. April 1951 in Cambridge verstarb – erst erobern. Denn eigentlich hatte er, gerade 29-jährig, in seinem einzigen zu Lebzeiten publizierten Werk Tractatus logico-philosophicus mit der Philosophie abgeschlossen und ihr den Rücken gekehrt. Er hatte gemeint und gezeigt: Die Philosophie ist an ihr Ende gekommen.

Wie sehr er sich geirrt hatte, wird Wittgenstein erst zehn Jahre später, nach seiner Zeit als Lehrer und kurzzeitig Gärtnergehilfe bewusst – in der Zeit, als er sich mit dem Bau des Hauses für seine Schwester Magarete befasst. Mit dieser am Räumlichen orientierten Tätigkeit gewinnt Wittgensteins Denken eine neue Dimension, die ihn dazu bewegt, das Philosophieren wieder aufzunehmen und an das Trinity College in Cambridge zurückzukehren. 

Hier tritt Wittgenstein (ab 1929) in einen intensiven Gedankenaustausch mit Piero Sraffa und Raffaelo Piccoli, zwei italienischen Wissenschaftlern aus dem Kreis um Gramsci. Von ihnen erhält er wesentliche Anregungen für seine Arbeit an den Grundzügen eines auf die menschliche Handlungspraxis bezogenen Denkens. Wittgenstein gewinnt eine Auffassung von der Philosophie, die das Philosophieren selbst als eine Praxis versteht. Zeichen  erhalten ihre Bedeutungen in einem gemeinsamen praktischen Handeln: durch den Gebrauch der Sprache.

Im Kontext des praktischen Handelns gibt es keine festen Zuordnungen von Bedeutungen zu Zeichen und damit auch keine Eindeutigkeit der Sprache, wie sie im Tractatus gefordert worden war. Ebenso wie Gebärden praktisch ausgeführt werden müssen, damit sie Bedeutung erhalten, müssen Gedanken ausgedrückt werden, damit man ihren Gehalt erkennen kann. Wittgenstein spricht nun nicht mehr wie noch im  Tractatus von ihrer logischen Struktur und ihrer abbildenden Beziehung zur Welt.

Mit dieser tiefgreifenden Veränderung in Wittgensteins Denken verändern sich auch seine Schriften. Sie erhalten einen handlungspraktischen und einen ethischen Charakter. In den Philosophischen Untersuchungen wird dies deutlich. Hier werden die Leser in regelrechte Übungen eingeführt. Sie werden in der Fähigkeit unterrichtet, dort eine Handlungspraxis zu erkennen, wo es scheinbar ausschließlich um eine theoretische Beschäftigung zu gehen scheint. Sie üben bereits eine andere Praxis, während sie die niedergeschriebenen Gedanken rezipieren.

 

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Gunter Gebauer, Jahrgang 1944, ist Professor für Philosophie und Sportsoziologie an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte  liegen in den Bereichen Ästhetik, Anthropologie, Sprach- und Sozialphilosophie. Seit den Anfängen gilt Gunther Gebauers leidenschaftliches Interesse dem Philosophen Ludwig Wittgenstein.  

Link-Tipps und Lektüre-Empfehlungen zu Ludwig Wittgenstein:

 

Philosophisch Interessierte könnte auch der Artikel: Wittgensteins philosophische Wende weiterführenden Hinweise geben.

 

Die Seite der Internationalen Ludwig Wittgenstein Gesellschaft e. V. (ILWG) bietet vor allem Wissenschaftlern relevante Informationen zu Tagungen, Neuerscheinungen etc. zu Wittgenstein. Auch interessante Textmaterialien finden sich hier: www.ilwg.eu/

 

Unsere Lektüre-Empfehlung: Wittgensteins anthropologisches Denken, von Gunter Gebauer. Verlag C.H. Beck, 287 Seiten, Paperback

 

 

 

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1. Die Logisch-Philosophischen-Abhandlungen 

1922 erscheinen die Logisch-Philosophischen-Abhandlungen (Traktat), nach deren Fertigstellung, 1918, Wittgenstein die Konsequenz aus dem darin verkündeten Diktum, die wesentlichen Probleme der Philosophie seien gelöst, zieht, indem er mit der Philosophie bricht und eine Vita activa als Volksschullehrer und Klostergärtner beginnt. Erst 1929 wird er nach Cambridge und damit zur Philosophie zurückkehren.
 
Im Traktat wird Sprache wesentlich als Mittel der Wiedergabe der nichtsprachlichen Welt und der Vergegenwärtigung derselben im Denken verstanden. Der Korrespondenztheorie entsprechend gewinnt die Wahrheitsfrage an Relevanz. Was macht Sprache wahrheitsfähig, was sichert ihre Eindeutigkeit / eindeutige Bedeutungen sind die Vorurteile (unbegründeten Voraussetzungen) vor deren Hintergrund nach ihrer Möglichkeit gesucht wird. Wittgensteins Antwort ist, dass der durch Vagheit und Unbestimmtheit geprägten Alltagssprache eine logische Tiefengrammatik zugrunde liegt. Der atomare Satz ist das Element dieser formallogischen Tiefenstruktur, der durch seine strukturelle Isomorphie mit der Wirklichkeit die Korrespondenz der beiden sichert. Ebenso stehen Namen in unmittelbarer Korrespondenz zu den einfachen Gegenständen und tragen so zum Entsprechungsverhältnis von sprachlicher und nichtsprachlicher Welt bei. Letztlich liegt dem Tractatus damit das uralte ‚Vorurteil’ von der (Notwendigkeit der) absoluten Bestimmtheit des Sinns zugrunde, die die Suche nach logischen Strukturen folgerichtig nach sich zieht. Indem man davon ausgeht, dass Bedeutung 100% bestimmbar ist, ergibt sich überhaupt erst die Idee einer logische Eindeutigkeit garantierenden Struktur, auf der die vage Alltagssprache basiert. Die Alltagsprache ist daher stets als defizitär im Angesicht der logischen Struktur disqualifiziert. Krämer nennt dies die Unterscheidung zw.Philosophische Untersuchungen Sprache und Sprechen, zwischen einem vollständigen zugrunde liegenden, Klarheit garantierenden System und einer (stets defizitär und vage) bleibenden Anwendung einen „intellektualistischen Fehlschluss“ (Krämer).



2. Die Philosophischen Untersuchungen


Mit den Philosophische Untersuchungen findet eine Umperspektivierung auf Sprache statt, die zu anderen Fragestellungen führt. Ziel ist es nun „das Funktionieren der Wörter klar übersehen“ zu können und zu diesem Zweck bringt es nichts, Begriffe als Widerspiegelung von äußeren Dingen im Bewusstsein und Wörter als die nachträgliche Verlautbarung und Materialisierung dieser inneren Bewusstseinsbegriffe zu verstehen. „Wir analysieren nicht ein Phänomen (z.B. das Denken), sondern einen Begriff (z.B. den des Denkens), und also die Anwendung der Wortes.“ „Nicht, was Vorstellungen sind, oder was da geschieht, wenn man sich etwas vorstellt, muss man fragen, sondern: wie das Wort Vorstellung gebraucht wird.“ Die nach Gründen des hypothetisch unterstellten exakten Sinns fahndende Tiefenforschung, die verborgene, die Sinnidentität sichernde Strukturen offenlegen will, führt in die falsche Richtung, fort von der Übersichtlichkeit, von sichtbaren Zusammenhängen, die nur in der „Sprache des Alltags“ gesehen (!) werden können. („Denk nicht, sondern schau“, ist das Motto der Philosophische Untersuchungen.) Indem die Alltagssprache zum Untersuchungsgegenstand wird, wandelt sich auch die Perspektive des Philosophen. Der Blick, mit dem sich dem Vorgang des Sprechens genähert wird, geht nicht mehr wie der des Tractatus in die Tiefe, sondern in die Breite. Es ist ein streuender, polyperspektivischer, kein fixierender Blick, der die Mannigfaltigkeit der Verwendungen aber auch das Ähnliche zwischen ihnen sichtbar werden lässt. Mit ihm wird sichtbar, dass es keine a priori feststehende, kalkülgleiche Zuordnung von Zeichen und Gegenstand gibt, sondern eine Pluralität der Verwendung, eine „Mannigfaltigkeit der Sprachspiele“. 

Sprachspiel
Mit dem Neologismus „Sprachspiel“ versucht Wittgenstein diese Umperspektivierung zu vollziehen. Der Begriff des Sprachspiels ist ein Begriff, der zum Sprachspiel des „Licht in die Verhältnisse unserer Sprache werfen“-Wollenden gehört. Er soll fortleiten vom (Sprach-)Systembegriff, der Sprache als etwas Abgeschlossenes, Festes, in sich vollkommen Bestimmtes und vollkommen Bestimmbares vorstellt und damit den Vorgang des Sprechens eher verdunkelt denn erhellt. Sprache in Analogie zum Spiel zu betrachten, heißt auf ihre Offenheit Acht zu geben. Spiele sind anders als ein geschlossenes System, ein offenes Regelsystem mit unzähligen Unterarten und Varianten, die nicht klar von einander abgrenzbar sind, ineinander übergehen, sich wandeln. Ähnlich vielfältig in ihrer Verwendung ist auch die Sprache bzw. das, was man Sprache nennt: „Es gibt unzählig verschiedene Arten der Verwendung all dessen, was wir ‚Zeichen’, ‚Worte’, ‚Sätze’ nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes: sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele  entstehen und andere veralten und werden vergessen.“ Das Sprachspiel ist daher ein „Begriff mit verschwommenen Rändern“, so wie jeder Begriff nicht klar umgrenzt, statisch ist. Wenn wir z.B. vom Spiel reden, so tun wir dies in unendlich vielen Hinsichten, insofern es Brett-, Schach-, Ballspiele etc. sind und genau so verhält es sich mit allen Worten, die unterschiedlichst angewandt werden können und werden. Und dabei gibt es nichts, was z.B. all den Wortverwendungen ‚Sprache’ gemeinsam ist und das man dann als Wesen der Sprache festmachen könnte. Anstelle einer solch fixen Entität sieht man „ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“, „Familienähnlichkeiten [wie] zwischen den Gliedern einer Familie“. 

Gebrauchstheorie
Wie schon angedeutet verschiebt sich mit der Analogie des Spiels die Frage von der ‚ewigen’ Bedeutung hin zur konkreten (sichtbaren!) Verwendung der Worte, von der Sprache zum situativen Sprechen. „Die Bedeutung des Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“, ist der Satz, der den Weg fortführt von einer essentialistischen Bedeutungstheorie, die Bedeutung im ‚Wesen’ der sprachlichen Zeichen oder im Denken verortet. Wittgenstein hält die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Zeichen für verdunkelnd und daher ersetzbar durch die nach dem Gebrauch, der Verwendung, der „Benützung“ der Worte. Das Wort ‚Bedeutung’ gehöre gar nicht zu den alltäglichen Sprachspielen (ausgeschlossen Missverständnisse), sie ist keine Entität, die der Forscher ex post ausfindig machen könnte. Daher gilt es, den Blick auf das Funktionieren der Sprache im Alltag, auf die alltägliche Praxis des Sprechens zu richten und dabei zu sehen, dass Sprechen eine Verwendungspraxis ist. Wie die Gegenstände eines Werkzeugkastens kann man den Satz „als Instrument an[sehen], und seinen Sinn als seine Verwendung!“ Bei Worten wie ‚Absicht’, ‚Wollen’, ‚Wünschen’ (intentionalen Vorgängen) ist das Bedeutende nicht, dass damit ein Innen ‚beschrieben’, von ihm Bericht erstattet wird, was zur Folge hätte, dass man dieses Innen der ‚wahre’ Ort der ‚Bedeutung’ wäre, sondern entscheidend ist, dass die Worte selbst Taten, Ausdrucksbenehmen (Expressionen) sind, die wiederum in ein Ausdrucksbenehmen eingebettet sind. „Worte sind auch Taten“, und wenn ich sage, dass ich x wünsche, so drücke ich damit mein Wünschen aus. Wünschen ist ein Tun. Daraus folgt, dass das Entscheidende am Wollen, Wünschen etc. ist, dass das Kriterium ihres Bestehens die sichtbare „Reaktion“ ist. „Ich erschließe ihm mein Inneres, wenn ich sage, was ich tun wollte. – Nicht aber aufgrund einer Selbstbeobachtung, sondern durch eine Reaktion“ [„Ein innerer Vorgang bedarf äußerer Kriterien“]. 
Sprechen ist also ein Tun, das „in eine Situation eingebettet“ ist. Im Hinblick auf den Terminus Sprachspiel bedeutet dies, dass er sich auf „das Ganze: d[ie] Sprache und d[ie] Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist“. bezieht. Sprachliche Handlungen sind „mit nichtsprachlichen Handlungen – und zwar konstitutionell – verwoben“ (Krämer). Sprachliche und außersprachliche Handlungen sind legiert und „für sich“ nicht erklärbar. Für den außenstehenden Beobachter, der die Sprache, das Zeichensystem einer Gemeinschaft qua Gruppe derselben Lebensform ‚verstehen’ will, bedeutet dies, dass er das gesamte „Benehmen“, Ton und Gebärde, in denen sprachliche Aktivitäten vorzufinden sind, beobachten muss. Vor allem im Hinblick auf den Beobachter einer fremden Sprache gilt, dass „die gemeinsame menschliche Handlungsweise […] das Bezugssystem ist, mittels welches wir uns eine fremde Sprache deuten.“
 

Lebensform
Die Lebensform kennzeichnet diesen Gesamtzusammenhang, von dem die sprachliche Praxis nur ein Teil ist, das Bezugssystem, vor dessen Hintergrund über sprachliche Richtigkeit gesprochen werden kann. Sie ist ein Teil, über den man nicht durch Isolation, sondern durch Berücksichtigung des Ganzen Klarheit erhält. Das „Sprechen der Sprache [ist] ein Teil einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“  Eine „Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen“. Das Funktionieren der Sprache wird nur verständlich, indem man sie als Teil eines Größeren, einer gemeinschaftlichen Praxis aus kommunikativen Handlungsmustern und außersprachlichen Handlungsabläufen, sozialen Verhaltensmustern begreift, indem man sieht, dass sie immer nur gemeinsam mit anderen andere Tätigkeitsformen existiert. Als Ganzes aller gemeinschaftlichen Praktiken ersetzt der Begriff ‚Lebensform’ den starren Systembegriff, der Richtigkeit über apriorische logische Regeln sichern wollte. Anstelle eines solch inneren Identitätskriteriums, eines durch dieses identischen Systems  tritt ein Raum der Ähnlichkeit und relativer Übereinstimmung: ähnlicher Gepflogenheiten, regelmäßiger Gebräuche, ein Raum, in dem die Menschen in ihrer Praxis übereinstimmen. Sprachlich agiert bzw. sinnvoll gesprochen werden kann nur ‚in ihm’, in ihm als einem relativ identischen Kontext des Sprechens und Handelns überhaupt. Handlungsformen werden in der Lebensform geteilt, sie sind kollektiv und können aus Beobachterperspektive als Regelmäßigkeit beschrieben werden. Zwar ist alles in ihr nur verschwommen umgrenzt, in permanenter Transformation begriffen und nur durch relative Ähnlichkeiten zu charakterisieren, doch reicht diese relative Koinzidenz hin, um das „Funktionieren“ der Sprache zu garantieren. Es bedarf keiner starren Grenze, um zwischen korrektem und inkorrektem Wortgebrauch zu unterscheiden. Als Kriterium der Richtigkeit der Wortverwendung dient allein die gemeinsame Lebensform, der Erfolg (einer Wortverwendung) in der Gemeinschaft. Nicht eine auffindbare Identitätskriterium, etwas in mir, sondern die dieselbe Lebensform teilende Gemeinschaft ist der Maßstab der Richtigkeit. Daher kann Wittgenstein formulieren, dass der Gebrauch eines Wortes einer solchen Rechtfertigung bedarf, „die Alle verstehen.“ Letztlich führt dies auch zur Verwerfung des Introspektions- oder Privatsprachenarguments und der Auslegung intentionaler Vorgänge. Ich selber habe kein Kriterium der Gleichheit zweier Vorstellungen ohne die Gemeinschaft der Lebensform. Mit ihr hat die „Rechtfertigung durch die Erfahrung ein Ende.“ „Was ist das Kriterium der Gleichheit zweier Vorstellungen? Was ist das Kriterium der Röte einer Vorstellung? Für mich, wenn der andere sie hat, was er sagt und tut. Für mich, wenn ich sie habe, garnichts.“ „Frag nicht: Was geht da in uns vor, wenn wir sicher sind…?, sondern: Wie äußert sich die Sicherheit, daß es so ist? In dem Handeln des Menschen“. Das Kriterium für Richtigkeit ist nichts Festes, Vorfindbares, sondern die sich im permanenten Wandel begreifende Praxis einer Gemeinschaft derselben Lebensform. Dass ein Wort in ihr so gebraucht wird, genügt.

Regeln
Der Regelbegriff gehört zum Sprachspiel des Funktionierens der Sprache. Er ist wie der Musterbegriff ein „Mittel der Darstellung“. Beide Begriffe gehören nicht zum alltäglichen Sprachspiel. „Regeln – und das ist für Ws. Sprachauffassung essentiell – sind keine Phänomene des Vollzugs, sondern der Erklärung-des-Vollzugs.“ (Krämer) Wenn man sich zur Darstellung der Sprache also Begriffen wie ‚Muster’, ‚Regel’ etc. bedient, muss man sich stets der Gefahr bewusst sein, dass die Sprache feiern könnte, insofern muss man stets darauf reflektieren,  dass diese Begriffe nur als „Vergleichsobjekt […] nicht als Vorurteil, dem die Wirklichkeit entsprechen müsse“ herangezogen werden. Es sind Begriffe, die zum Reden über die Sprache notwendig sind, die aber nur als ein „Paradigma; etwas womit verglichen wird“, betrachtet werden dürfen, nicht als etwas, dem die Alltagssprache entsprechen müsste. Regeln haben keine inhaltliche Profession oder hierarchische Vormachtstellung. Außerdem muss die sich in den Begriffen verheißende Absolutheit relativiert werden. Bei dem, was der das Sprachspiel der Sprachbeschreibung-Spielende als Regel affichiert, handelt es sich um ein „Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen“, nicht um etwas Starres, das nicht ebenso gut anders sein könnte.
 
Versteht man das Sprechen als Regelfolgen, so muss man bedenken, dass Wittgenstein „Regel folgen [als] eine Praxis“ unter anderen Tätigkeiten wie „eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen“, die als praktische Fertigkeiten gegen kenntnisfundierte (Krämer) abgrenzbar sind. Wie diese Vorgänge ist auch Sprechen, nicht auf die Kenntnis oder „Deutung“ einer Regel angewiesen, die zum Vollzug immer wieder angewendet werden müsste und die isoliert für sich als Referenzpunkt besteht. Genauso wenig wie ich erst die Regeln gelernt und interpretiert habe und dann Schach spiele, habe ich die Form des Satzes gelernt, bevor ich spreche. Ich habe zugesehen, einem wurden Beispiele gegeben und irgendwann macht man es nach. Wittgensteins Tätigkeitsauffassung (inklusive sprachlicher Tätigkeit) ist daher wesentlich durch Nichtreflexivität gekennzeichnet (vgl. Krämer). Sprechen kommt „nahezu ohne Denken aus“ (Krämer); es ist als präreflexive Anwendung vorgelebter Lebensformen zu verstehen. Weil man von bestimmten Gepflogenheiten umgeben ist, übernimmt man sie. Die Lebensform ist, wie Wittgenstein auch sagt, das „Hinzunehmende, Gegebene“. Ich beherrsche die Technik der der Sprache, weil ich „zu einem bestimmten Reagieren auf dieses Zeichen abgerichtet worden“ bin, indem die eine Zeichenverwendung goutiert, die andere negativ sanktioniert wurde. Das Nachahmen der in der Gemeinschaft praktizierten sprachlichen Gepflogenheiten ist bereits das Regelfolgen oder noch kürzer: Einer Regel folgen ist eine Gepflogenheit. „Ich folge der Regel blind Daraus ergibt sich schließlich auch die „Sicherheit“, mit der die Techniken praktiziert werden, mit der ich sagen kann „So rede ich eben.“ „So handle ich eben.“ 

Dennoch ist die Regel kein „den Sprachgebrauch determinierendes Element“ (Krämer). Das Sprechen ist nicht vollständig durch Regeln, die gemeinschaftliche Praxis bestimmt bzw. ich befinde mich nicht in 100%iger Übereinstimmung mit der gemeinschaftlichen Praxis. Daher will Wittgenstein die Regel als „Wegweiser“, als „ein Muster dessen, was man sagen soll“, verstanden wissen. Der Wegweiser reguliert dabei die Laufrichtung nicht apodiktisch. „Eine Menge wohlbekannter Pfade führen von diesen Worten aus in alle Richtungen.“ Versteht man die Kommunikationsgemeinschaft als einen die Regeln für Wortverwendungen iniziierenden und praktizierenden Raum, so ist klar, dass kein Individuum der Gruppe dieselben praktischen, dieselben Regelerfahrungen, hier: Kommunikationserfahrungen hat machen können. Eine vollkommene Identität der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder im Hinblick auf die eingeübten Muster gibt es nicht: die Erfahrungshorizonte differieren notwendig. Der Wortgebrauch entspricht nie dem ‚Erlernten’ wie dem der anderen Mitglieder, weil das Übernommene (die darin implizite Regel) je nach Erfahrungshorizont divergiert und weil schließlich die angeeigneten Formen der Praxis (Regeln) sich immer in neuen Kontexten behaupten/realisieren müssen (Kontexte kehren nicht identisch wieder). Das, was der Wegweiser sagt, ist vieldeutig, insofern es zwischen den einzelnen Individuen und in verschiedenen Situationen divergiert. Das, wonach man handelt, der Maßstab, der dem eigenen Sprechen zugrunde liegt, ist verschieden von dem anderer Spielteilnehmer. Weil die „Zusammenschau der Kommunikationserfahrungen“, zu der ein Individuum bei bestimmten Wortverwendungen, ‚Wort-Begriffen’ veranlasst wird, „nie bei allen sprechenden Individuen einer Sprachgemeinschaft exakt die gleichen sein können“ (Busse), kommt es zu unterschiedlichen Wortverwendungen, zur Verwendungsvielfalt und schließlich sogar  zum Wandel von Bedeutungen. 

 
Was einem Wort letztlich Bedeutung verleiht, wie es verwendet wird, hängt – und das macht Wittgenstein zum Vorreiter der linguistischen Pragmatik – von unzähligen Faktoren wie den gemachten Kommunikationserfahrungen, den Gepflogenheiten, der konkreten Äußerungssituation etc. ab. Begriffe samt ihrer Bedeutung sind alles andere als identisch, feststehend. „Der „Umfang des [keines!] Begriffs [ist] nicht durch eine Grenze abgeschlossen“, der Sinn eines Wortes nie „exakt“. Vom Exaktheitsideal, von der „Kristallreinheit der Logik“ ist abzulassen, weil sie nie mehr war als eine in die Sprache hineinprojizierte „Forderung“, ein vom verhexten Verstand aufgestellte Hypothese, eine Chimäre. Indem Sprache so nicht mehr als einheitlich-identisches Regelsystem, Sprechen nicht mehr als „Handeln mit in ihren Bedeutungen feststehenden Zeichen erklärt wird“ (Busse), werden Vieldeutigkeit und Wandel von Wortbedeutungen verständlich. Bedeutung ist das, was beim Sprechen immerzu emergiert. Es findet ein permanente Veränderung der bedeutungsstiftenden Konventionenmatrix statt, insofern Sprecher nie nur reproduktiv, sondern beim Sprechen immer auch variierend aktiv sind. Die „Ökonomie eines Zeichensystems“ erweist sich als „grenzenlos, weil der systematische Rahmen der Konvention mit jeder neuen Typenverwendung sich verschiebt, weil das Ensemble der differentiellen Marken nicht als ehernes Gitter gedacht werden kann“ (Frank). Die Synthese von Wort und Sinn ist daher keine feste, die „gewohnheitsmäßig verfestigte Synthesis der sprachlichen Typen verschiebt sich“ (Frank) permanent, der Status quo der Konvention, also dessen, was als Regel praktiziert wird, befindet sich in permanenter Transformation.

 

 

Unser Lektüre-Tipp: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts von Sybille Krämer – ein Buch der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft, das auch der Verfasserin des hier veröffentlichten Aufsatzes wesentliche Anregungen bot.

Sybille Krämer

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