1911 erschien im Georg Müller Verlag in München der Erzählband Vereinigungen mit den beiden Erzählungen „Die Vollendung der Liebe“ und „Die Versuchung der stillen Veronika“. Eine erste Fassung des letzten Textes war bereits 1908 unter dem Titel „Das verzauberte Haus“ in der von Franz Blei und Carl Sternheim herausgegebenen Zeitschrift „Hyperion“ erschienen. Bis zur Endfassung bedurfte es also zweieinhalb Jahre. Die Fertigstellung muss für Musil wie ein Befreiungsschlag gewesen sein, zumindest deutet darauf hin, dass er in seinen Tagebüchern genauestens Auskunft gibt über Datum und Uhrzeit der Fertigstellung. Am Ende des Jahres 1910 und am Anfang des darauf folgenden Jahres hält Musil fest: „18. November 3h 05´ nachmittag: Claudine beendet, 11. Jänner 1911 1h morgens Veronika beendet.“

Im Folgenden findet sich eine Auswahl von Tagebucheintragungen und essayistischen Fragmenten, in denen Musil Inhalt und Form der zwei Erzählungen reflektiert. 

In unserer biografischen Skizze finden Sie mehr Informationen zu Robert Musils Lebensweg.

  01 – Robert Musil, Die Vollendung der Liebe by onomato verlag

02 – Robert Musil, Die Vollendung der Liebe by onomato verlag

03 – Robert Musil, Die Vollendung der Liebe by onomato verlag

Robert Musil: Tagebücher. Bd. I. Reinbek bei Hamburg 1983. Tagebuch Heft 5: 8. August 1910–14. Oktober 1911 oder später

„Übrigens die Claudine u. Veronika geben noch zu einem speziellen Bedenken Anlaß. Ich suchte in der letzten Zeit das Ziel in einer maximalen Stringenz der Darstellung und einem in die Tiefe Treiben des Problems. Ich suchte die wahren (ethischen nicht bloß psychologischen) Determinanten des Handelns. Denn Menschen bei Hauptmann od. Ibsen sind nicht determiniert, ihre Beweggründe bewegen mich nicht. Die (nicht vermiedene höchstens durch den Charakter Novelle entschuldigte) Gefahr ist die:
Wenn man sagt: in der Neigung zu einem Tier kann partiell etwas von der Hingebung an einen Priester sein, oder eine Untreue kann in einer tieferen Innenzone eine Vereinigung sein – so hat man die Basis von Veronika u. Claudine umschrieben. Es ist nicht mehr darinnen als dies. Freilich ist jetzt der Innenbereich mit einer subtilen Mannigfaltigkeit gefüllt. Aber sie wird ethisch nur durch diese Umhüllug charakterisiert sein. Der das Innenleben eines anderen Menschen gestaltende Einfluß des Buches wird immer durch sie erschöpft udgl. Die Art der Vertiefung des Problems ist ethisch belanglos. Es ist ethisch arm. Vorausgesetzt, daß sich wirklich irgendwie zeigen läßt, daß wohl das Grundproblem ethisch wirkt, nicht auf einer Wikungsstufe damit aber etwa die Idee, daß man wegen der unerreichbaren Innerlichkeit in sich verzweifelt (u dh. untreu) sein kann. Und warum. Dann könnte man eine andere Kunst postulieren, die mit vielen solchen Einheiten, deren eine hier unterteilt ist, ungeteilt operiert.“

04 – Robert Musil, Die Vollendung der Liebe by onomato verlag

05 – Robert Musil, Die Vollendung der Liebe by onomato verlag

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Robert Musil: Tagebücher. Bd. II. Reinbek bei Hamburg 1983. Anhang zu Heft 5

Hier thematisiert Musil die Vereinigungen innerhalb abstrakt gehaltener Überlegungen zur Apperzeption, Welt- und Selbstwahrnehmung:

„1. Das Wesentliche in Claudines Vergangenheit ist, daß sie in ihrem Glück noch nichts Letztes fühlt und nichts vollkommen Sicheres. Ihr Zustand ist nicht stabilisiert u sie beherrscht ihn nicht, solange sie nicht die dynamische Natur seiner Balance erkennt und III2 [das „eigentliche Leben“ als das für „feine Empfängnisse“ offene] erkennt.
2. Das Ganze ist ein Weg zur Sicherheit in ihrer Liebe. Vom Mißtrauen und der Eifersucht aus steigend. Am Schluß erlangt sie ihre Sicherheit, das Bewußtsein dieser feinen Stärke Mensch u. weint vor Glück u weil sie es so erkaufen muß.
3. Claudines Mißtrauen in ihre Liebe ist natürlich schon feiner u. mehr Liebe als das gewöhnliche Glück. Überdies geht es aber von da aus noch weiter bis zum Gipfel. Der ganze Konflikt spielt schon in einer übernormalen Sphäre. […]
Sie [Claudine] erkennt, daß Glück emotionales Gleichgewicht.. eine Gestaltqualität ist. Ein kompliziert ausbalancierter Gegenstand höherer Ordnung. Verliert man einen Augenblick die Spannung, so geht es in unendliche Löcher. Man wehrt sich gegen die Welt, indem man über sie diese andere spannt.  Jeder spannt aber eine andere, und die eines jeden ist für die eines jeden anderen ein Abgrund. Liebe heißt auf diesem gefährlichen Weg einen Gefährten haben. Lieben heißt die Gefährlichkeit des Wegs erkennen und das Unbegreifliche der Coincidenz mit einem Andern fühlen. Von jedem Wort getroffen werden u. gemeinsam durch einen Nebel gehen, durch den man die anderen Menschen nur fern, gedämpft, groß, flächenhaft sieht. Gefühlsentscheidungen sind irrational, liegen jenseits des Verstandes, der emotionale Faktor wirkt ja bei der Ausschaltung des intellektuellen durch Konstanz: Befruchtung, Wachsen des Irrationalen.“

Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. B. 8. Essays und Reden. Aus dem essayistischen Fragment Novellen [1911]

„In allen Liebestragödien liegt die gleiche Oberflächlichkeit: – der zufällige Eintritt des dritten. Rilke hat es gesagt. Er hat den Ehebruch gefordert, der sich nur zwischen zwei Personen abspielt. Der Ehebruch zwischen zwei Menschen (vollzogen an einem beliebigen dritten, an einem Repräsentanten der ersten Sphäre) wegen des Bewußtseins um die Existenz jener innersten Sphäre, wo Liebende sich in Nichtigkeiten auflösen, die sogut sie wie andere sind, wo der einzelne nur der Durchgangspunkt von Reflexionen ist, die allen gelten von einer noch näher an den Geliebten sich Herankämpfenden gewendet als Vollendung der Liebe.“

 

Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 7. Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches. Aus einem der fallen gelassenen Vorwortentwürfe zu: Nachlass zu Lebzeiten [1935]

„Ich habe die Antwort [auf die Entscheidungsfrage: Dichten, Forschen, Handeln] mit Anstrengung zu suchen begonnen, als ich mein zweites Buch schrieb, die 2 Novellen, Vereinigungen, u. vornehmlich deren erste. Das Anekdotische dieses Falles ist so: Ich war aufgefordert worden, in einer literar. Zeitschrift, der von FB [Franz Blei] damals herausgegebenen …[„Hyperion“], eine Erzählung zu veröffentlichen. Meine Absicht war, mir schnell u. ohne viel Bemühen eine Gelenkprobe zu geben und die übliche galante Erzählung ein wenig im Sinn irgendwelcher Gedanken, die mich gerade beschäftigten, zu spiritualisieren. Das sollte mich 8 bis 14 Tage kosten.
Was daraus wurde, war ein2einhalb-jähriges verzweifeltes Arbeiten, währenddessen ich mir zu nichts anderem Zeit gönnte.
Verschärft dadurch, daß der Effekt – eine kleine Erzählung, deren Rahmen keine Ellbogenfreiheit gewährte – unmöglich dem Arbeitsaufwand entsprechen konnte.
Was schließlich entstand: Eine sorgfältig ausgeführte Schrift, die unter dem Vergrößerungsglas (aufmerksamer, bedachtsamer, jedes Wort prüfender Aufnahme) das Mehrfache ihres scheinbaren Inhalts enthielt. Ich hatte nichts getan, um das zu erleichtern. Im Gegenteil, selbst die Interpunktion gliederte den Inhalt nicht für den Leser, sondern nur für das gewählte Gesetz. Ich habe sogar eine vorsichtige, liebenswürdige u kluge Bitte des Verlegers eigensinnig abgelehnt.
Für mich entstand ein großer Mißerfolg daraus.
Wieder zeigt sich, was so oft geschieht, das Erstlingswerke [gemeint ist der Törleß] Blendwerke sind: schrieben die, denen ich schon anfangs nicht gefallen hatte. Schrieben, die ein Erlebnisbuch begrüßt hatten. Schrieben aber auch die meisten meiner Gönner. Mir sind im ganzen Leben sehr wenig Menschen begegnet, die gespürt hatten, was dieses Buch sein solle u. gewiß zT. auch ist.
Es ist das einzige meiner Bücher, worin ich heute noch manchmal lese. Ich ertrage keine großen Stücke. Aber ein bis zwei Seiten nehme ich jederzeit – abgesehen von bestimmten schmerzlichen Ausdrucksmängeln – gern wieder auf.“

 

 

Im Folgenden artikuliert Musil den „in den Vereinigungen angebahnte[n] Weg“ einer Dichtung qua „Sinngebung“, ein der Religiosität, genauer der „empirischen Religiosität“ verwandtes Unterfangen. Dichtung ist für Musil „lebendiges Ethos“, gegen die Starrheit von Weltanschauungen gerichtete fragmentarische „Lebensgebung“. Auch dort, wo es in Literatur scheinbar um Psychologisches geht, grenzt Musil die beiden Sphären gegeneinander ab. In diesem Kontext finden sich Überlegungen zum dichterischen Prinzip der Vereinigungen.

„Persönlich bestimmend war, daß ich von Beginn an im Problem des Ehebruchs das weitere des Selbstverrats gemeint hatte. Das Verhältnis des Menschen zu seinen Idealen.
Wie immer aber: ich war nicht determiniert. Ich hatte so viel Ursache einen bestimmten Ablauf wie viele andere zu beschreiben.
Da bildete sich in mir die Entscheidung, den ‚maximal belasteten Weg‘ zu wählen/ den Weg der kleinsten Schritte / den Weg des allmählichsten, unmerklichsten Übergangs/.
Das hat einen moralischen Wert: die Demonstration des moralischen Spektrums mit den stetigen Übergängen von etwas zu seinem Gegenteil.
Es kam aber hinzu u. entschied ein anderes Prinzip. Ich habe es das der ‚motivierten Schritte‘ genannt. Seine Regel ist: Lasse nichts geschehen (oder: tue nichts), was nicht seelisch von Wert ist. D.h. auch: Tue nichts Kausales, tue nichts Mechanisches.
[…]
In der Tat sind die Ver. (Claudine) ein aufs genaueste ausgeführtes Vorerleben ohne tote Strecke. Ein Erleben, das scheinbar durch den leisesten Hauch von außen bewegt wird, im Entscheidenden von außen aber ganz unbeweglich ist.“

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Die erste Veröffentlichung des onomato Verlags zu Robert Musil ist eine Volltextlesung zweier unter dem Namen Vereinigungen zusammengefasster

Erzählungen: Die Vollendung der Liebe und Die Versuchung der stillen Veronika. Zu beiden Texten hat sich Robert Musil im Nachhinein und noch

kurz vor seinem Tod geäußert. Hier finden Sie Auszüge seiner Aufzeichnungen und Notizen.

 

Interessante Links zu Musil und einen Abriss seines Lebens geben wir hier.

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Robert Musil wird am 6. November 1880 in Klagefurt als einziges Kind des Ingenieurs Alfred Musil und seiner Frau Hermine geboren. Durch die berufliche Veränderung des Vaters siedelt die Familie bald (1881) um nach Komotau in Böhmen, dann nach Steyer (Oberösterreich) und schließlich 1891 nach Brünn, an dessen Technischer Hochschule Alfred Musil als Professor beschäftigt wird. Karriere und berufliche Sicherheit waren aber nicht nur die Ideale des Vaters in Bezug auf sich selbst. Auch seinen Sohn wollte er im gesicherten Staatsdienst beschäftigt wissen, weshalb Roberts Zukunft schon früh auf den Offiziersberuf hin angelegt ist. Nach der Volkshochschulzeit und einem kurzen Besuch des zivilen Realgymnasiums wird er auf die als Internat geführte militärische Unter-, dann Oberrealschule geschickt, nach deren Absolvierung er sich 1897 an der technischen Militärakademie in Wien immatrikuliert. Alles sieht danach aus, als hätte der 17-Jährige den väterlichen Wunsch verinnerlicht, doch schon drei Monate nach der Immatrikulation, wechselt Musil plötzlich zur zivilen Hochschule in Brünn, schreibt sich für den Studiengang Maschinenbau ein, den er 1901 mit der Ingenieurstaatsprüfung beschließt. Nach einem Freiwilligen-Jahr im Militärdienst nimmt Musil eine Assistentenstelle an der Technischen Hochschule in Stuttgart an, gibt diese aber bereits nach einem Jahr wieder auf und beginnt mit dem Studium der Philosophie. In Berlin hat er die Möglichkeit, Dilthey und Simmel zu hören, des ersten sowie Cassirers Erkenntnisphilosophie, des letzten Lebensphilosophie kennenzulernen. Ebenso setzt er sich mit der in den Anfängen stehenden Gestaltpsychologie auseinander, bei deren Mitbegründer Carl Stumpf er 1908 seine Promotion „Beitrag zur Beurteilung des Lehren Machs“ einreicht. Musil liest viel während seiner Studienjahre, er liest Emerson, Maeterlinck, d`Annunzio, Grillparzer, Hamsun, Hauptmann, Tieck, fühlt sich insbesondere von Nietzsche, Hofmannsthal, Dostojewski, Gide und Proust angesprochen – und dichtet darüber hinaus selbst. Er vollendet und veröffentlicht den in Stuttgart begonnenen Törleß und bringt darüber hinaus zahlreiche Entwürfe z.B. zur Tonka-Novelle, zu dem Drama Die Schwärmer und den Vereinigungen zu Papier.   Schließlich lernt er in diesen Jahren (1906) seine zukünftige Lebensgefährtin, die Malerin Martha Markowald, geborene Heimann, kennen, die er 1911, im Erscheinungsjahr der endlich vollendeten Vereinigungen, heiraten wird. Nach zwei gescheiterten Ehen, dem frühen Tod ihres ersten Mannes und dem Unglück in der zweiten Bindung, hat die aus einer jüdischen Familie stammende Kaufmannstochter Martha ein enormes Harmoniebedürfnis entwickelt, das sie Konflikte vermeiden lässt. Im Konkreten bedeutet dies, dass die als sehr belesen, belesener als Musil, Geschilderte ihrem Mann das Alltagleben erleichtert, indem sie ihm viele Entscheidungen, z.B. die Wahl der Speise im Restaurant, abnimmt sowie die Bezahlung der Rechnung übernimmt. Martha wird auch die finanziell knappsten Jahre ihrem Mann zur Seite stehen.

Anders verhält es sich mit Roberts Vater Alfred Musil, der, nachdem Robert das zweite Studium absolviert und die Möglichkeit einer Universitätslaufbahn ausgeschlagen hat, seinem Sohn 1911 eine Anstellung als Bibliothekar in Wien verschafft. Musil allerdings empfindet diese Aufgabe als dergestalt unerträglich, dass er, nach einem längeren Krankenurlaub in Italien, 1914 die Stelle aufgibt und sich nach Berlin begibt. Hier ist er bis zu seiner Einberufung und Abkommandierung nach Südtirol als Redakteur bei der „Neuen Rundschau“ beschäftigt, eine Tätigkeit, die er nach zwei Jahren Adjutantendasein während des Kriegs bei der „Soldatenzeitung“ in Bozen, daraufhin bei der Wochenzeitung „Heimat“ in Wien aufgreifen kann. Nach dem Krieg arbeitet Musil für den Pressedienst des Österreichschen Außenministeriums. Zwar wird ihm hier eine Beamtenstelle im Rang eines Obersten angeboten, doch Musil lehnt ab und übernimmt eine Archivtätigkeit, die er nach kaum einem Jahr kündigt. Als er dann auch noch seine Stelle beim Heeresministerium (1920–1922) verliert, zieht Musil sich endgültig vom Arbeitsmarkt zurück. Ab Ende des Jahres 1922 lebt das Ehepaar von den spärlichen schriftstellerischen Erträgen, von der Subventionierung seitens der Verleger, von den Geldern der eigens für Musil gegründeten Gesellschaften – die Musil-Gesellschaft in Berlin und dem Robert Musil-Fond in Wien – sowie von privaten Zuwendungen.

Leicht gefallen ist Musil die Entscheidung gegen eine feste Anstellung und damit gegen finanzielle Absicherung kaum. Ihm muss klar gewesen sein, dass er weder seinen Lebensstandard – gutes Essen, teure Kleidung, häufige Cafébesuche, fester Wohnsitz – noch seine Unabhängigkeit würde wahren können. Doch seine Scheu vor Festlegung und vor allem seine Schriftstellertätigkeit lassen keine weitere Bindung zu. 

Schreiben allerdings ist für Musil kein Vergnügen, sondern stets einen Kraftakt an Selbstbeherrschung und kontinuierlicher Hartnäckigkeit. Dies gilt vor allem im Hinblick auf seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften, mit dem Musil seit den 20er Jahren ringt. Zwar bestehen zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche Skizzen, doch Musil tut sich schwer, die Pluralität des Ideenmaterials zu synthetisieren. Nur langsam geht die Arbeit voran, nimmt das Material Gestalt an, und als der erste Band 1930 endlich erscheint, ist Musil ein vom Schreibkampf gezeichneter Mann. „Geistig und moralisch erschöpft“, gesundheitlich angeschlagen (Schlaflosigkeit, Herzprobleme) reist er nach Berlin, dessen Anonymität er als heilsam, dessen pulsierende Aktualität er als kreativitätsfördernd erlebt. Und in der Tat tut die Luftveränderung ihre Wirkung: Ein Jahr später erhält Rowohlt die Manuskripte zum zweiten Band des MoE

Als Musil 1933 zurückkehrt nach Wien, wird er noch 9 Jahre zu leben haben, er wird am „Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur“ in Paris teilnehmen (1935), vor einem Publikum von 400 Zuhörern den Vortrag Über die Dummheit halten (1937), er wird den – wie der MoE in die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ aufgenommenen – Nachlaß zu Lebzeiten publizieren (1838), doch sein Hauptanliegen, die Vollendung des MoE, erfüllt sich nicht. Wieder befallen ihn Schreibprobleme, dazu gesellt sich die labile Gesundheit, der Schlaganfall von 1936, die bedrückenden finanziellen Verhältnisse und schließlich der Krieg, der Musil ins Exil, zuerst nach Zürich (1938), dann nach Genf (1939) zwingt. Hier isoliert er sich beinahe völlig, meidet vor allem Schriftstellerkollegen und nimmt nur zu wenigen Menschen Kontakt auf. Zu diesen Auserwählten gehört der 27 Jahre jüngere Bildhauer Fritz Wotruba sowie der protestantische Pfarrer Robert Lejeune, der das Ehepaar finanziell unterstützt und Musil damit das Schreiben ermöglicht. Und tatsächlich: Musil arbeitet weiter am MoE, wenn auch inzwischen zunehmend entmutigt. Er ist von Versagensgefühlen geplagt und zwingt sich dennoch täglich an den Schreibtisch, so auch am Tag seines Todes, als ihn mittags der Gehirnschlag trifft.

„Ich bin geboren am 6. November 1880 in der österreichischen Stadt Klagenfurt, Hauptstadt des Landes Kärnten. Mein Vater, Alfred von Musil, später durch lange Zeit bis zu seinem Tode Professor des Maschinenbaus der Technischen Hochschule in Brünn, war damals als Ingenieur in einer Fabrik tätig. Meine Kindheit habe ich aber in der alten Stadt Steyr in Oberösterreich verlebt, wohin mein Vater inzwischen übersiedelt war, um eine staatliche technische Schule zu leiten. Als ich etwas über zehn Jahre alt war, zogen wir nach Brünn. Ich besuchte dort die Realschule weiter, die ich in Steyr, wo es kein Gymnasium gab, begonnen hatte, und ich erinnere mich, daß in seiner Weise der Eindruck nicht unbedeutend war, den ich dadurch empfing, daß ich aus der alpischen Natur kam, die Landschaft und Menschen in Steyr eigentümlich war, und mich sowohl in der sanften und etwas melancholischen Landschaft Mährens fand wie zwischen Menschen, die mir beinahe noch fremder vorkamen, wenn sie Sudetendeutsche waren, mit denen ich sprach, als zu den Tschechen gehörten, neben denen wir ohne Berührung herlebten. Ich muß hier einschalten, daß ich selbst zur Hälfte sudetendeutscher Abkunft bin und zu einem Viertel, worauf auch mein Name hinweist, tschechischer. Die Musil, von denen ich stamme, sind ein sehr altes tschechisches Bauerngeschlecht in Mähren, aber mein Großvater war ausgewandert, Arzt geworden und hatte bei Graz ein Landgut erworben, auf dem mein Vater und seine Geschwister als unverkennbare Grazer aufgewachsen waren, beinahe ohne etwas von ihrer Herkunft zu wissen.
Meine Vatersmutter stammte aus Salzburg. 
Meine eigene Mutter aus Linz an der Donau, der Hauptstadt Oberösterreichs. Ihr Vater war dahin beim Bau der ersten europäischen Eisenbahn, der zwischen Linz und Budweis, aus Böhmen gekommen und als Leiter dieser Bahn dort geblieben, auch noch im Ruhestand und bis zu seinem Tode; auch seine Frau, meine Muttersmutter, stammte aus Deutschböhmen. Ihrer beider Familien, Bergauer und Böhm, beide auch geadelt, hatten gerade so wie sie den Zusammenhang mit der Heimat verloren und sich über das ganze Gebiet der Monarchie zerstreut. So war es ein Zufall, der uns in die Nähe des Ausgangspunktes zurückführte; keinerlei Überlieferung und Wunsch verband meine Eltern mit ihm, und sie waren nicht froh darüber, daß sie ihr Schicksal von dort nicht mehr fortließ.  Ich selbst bin mit ungefähr zwölf Jahren von beiden wieder fortgekommen und in einem Offizierserziehungsinstitut untergebracht worden. Die Gründe dazu will ich übergehen und führe nur an, daß einer darunter der dringende Wunsch des ungebärdigen Knaben war, der sich etwas großmannssüchtig mit schon gewonnener Selbständigkeit schmeichelte, wenn er der milden elterlichen Aufsicht entrückt würde. Denn gerade dieser affektive Antrieb sollte alsbald seinem weit stärkern Gegenteil Platz machen.“

 

 

Robert Musil wird am 6. November 1880 in Klagefurt als einziges Kind des Ingenieurs Alfred Musil und seiner Frau Hermine geboren. Durch die berufliche Veränderung des Vaters siedelt die Familie bald (1881) um nach Komotau in Böhmen, dann nach Steyer (Oberösterreich) und schließlich 1891 nach Brünn, an dessen Technischer Hochschule Alfred Musil als Professor beschäftigt wird. Karriere und berufliche Sicherheit waren aber nicht nur die Ideale des Vaters in Bezug auf sich selbst. Auch seinen Sohn wollte er im gesicherten Staatsdienst beschäftigt wissen, weshalb Roberts Zukunft schon früh auf den Offiziersberuf hin angelegt ist. Nach der Volkshochschulzeit und einem kurzen Besuch des zivilen Realgymnasiums wird er auf die als Internat geführte militärische Unter-, dann Oberrealschule geschickt, nach deren Absolvierung er sich 1897 an der technischen Militärakademie in Wien immatrikuliert. Alles sieht danach aus, als hätte der 17-Jährige den väterlichen Wunsch verinnerlicht, doch schon drei Monate nach der Immatrikulation, wechselt Musil plötzlich zur zivilen Hochschule in Brünn, schreibt sich für den Studiengang Maschinenbau ein, den er 1901 mit der Ingenieurstaatsprüfung beschließt. Nach einem Freiwilligen-Jahr im Militärdienst nimmt Musil eine Assistentenstelle an der Technischen Hochschule in Stuttgart an, gibt diese aber bereits nach einem Jahr wieder auf und beginnt mit dem Studium der Philosophie. In Berlin hat er die Möglichkeit, Dilthey und Simmel zu hören, des ersten sowie Cassirers Erkenntnisphilosophie, des letzten Lebensphilosophie kennenzulernen. Ebenso setzt er sich mit der in den Anfängen stehenden Gestaltpsychologie auseinander, bei deren Mitbegründer Carl Stumpf er 1908 seine Promotion „Beitrag zur Beurteilung des Lehren Machs“ einreicht. Musil liest viel während seiner Studienjahre, er liest Emerson, Maeterlinck, d`Annunzio, Grillparzer, Hamsun, Hauptmann, Tieck, fühlt sich insbesondere von Nietzsche, Hofmannsthal, Dostojewski, Gide und Proust angesprochen – und dichtet darüber hinaus selbst. Er vollendet und veröffentlicht den in Stuttgart begonnenen Törleß und bringt darüber hinaus zahlreiche Entwürfe z.B. zur Tonka-Novelle, zu dem Drama Die Schwärmer und den Vereinigungen zu Papier.   Schließlich lernt er in diesen Jahren (1906) seine zukünftige Lebensgefährtin, die Malerin Martha Markowald, geborene Heimann, kennen, die er 1911, im Erscheinungsjahr der endlich vollendeten Vereinigungen, heiraten wird. Nach zwei gescheiterten Ehen, dem frühen Tod ihres ersten Mannes und dem Unglück in der zweiten Bindung, hat die aus einer jüdischen Familie stammende Kaufmannstochter Martha ein enormes Harmoniebedürfnis entwickelt, das sie Konflikte vermeiden lässt. Im Konkreten bedeutet dies, dass die als sehr belesen, belesener als Musil, Geschilderte ihrem Mann das Alltagleben erleichtert, indem sie ihm viele Entscheidungen, z.B. die Wahl der Speise im Restaurant, abnimmt sowie die Bezahlung der Rechnung übernimmt. Martha wird auch die finanziell knappsten Jahre ihrem Mann zur Seite stehen.

Anders verhält es sich mit Roberts Vater Alfred Musil, der, nachdem Robert das zweite Studium absolviert und die Möglichkeit einer Universitätslaufbahn ausgeschlagen hat, seinem Sohn 1911 eine Anstellung als Bibliothekar in Wien verschafft. Musil allerdings empfindet diese Aufgabe als dergestalt unerträglich, dass er, nach einem längeren Krankenurlaub in Italien, 1914 die Stelle aufgibt und sich nach Berlin begibt. Hier ist er bis zu seiner Einberufung und Abkommandierung nach Südtirol als Redakteur bei der „Neuen Rundschau“ beschäftigt, eine Tätigkeit, die er nach zwei Jahren Adjutantendasein während des Kriegs bei der „Soldatenzeitung“ in Bozen, daraufhin bei der Wochenzeitung „Heimat“ in Wien aufgreifen kann. Nach dem Krieg arbeitet Musil für den Pressedienst des Österreichschen Außenministeriums. Zwar wird ihm hier eine Beamtenstelle im Rang eines Obersten angeboten, doch Musil lehnt ab und übernimmt eine Archivtätigkeit, die er nach kaum einem Jahr kündigt. Als er dann auch noch seine Stelle beim Heeresministerium (1920–1922) verliert, zieht Musil sich endgültig vom Arbeitsmarkt zurück. Ab Ende des Jahres 1922 lebt das Ehepaar von den spärlichen schriftstellerischen Erträgen, von der Subventionierung seitens der Verleger, von den Geldern der eigens für Musil gegründeten Gesellschaften – die Musil-Gesellschaft in Berlin und dem Robert Musil-Fond in Wien – sowie von privaten Zuwendungen.

Leicht gefallen ist Musil die Entscheidung gegen eine feste Anstellung und damit gegen finanzielle Absicherung kaum. Ihm muss klar gewesen sein, dass er weder seinen Lebensstandard – gutes Essen, teure Kleidung, häufige Cafébesuche, fester Wohnsitz – noch seine Unabhängigkeit würde wahren können. Doch seine Scheu vor Festlegung und vor allem seine Schriftstellertätigkeit lassen keine weitere Bindung zu. 

Schreiben allerdings ist für Musil kein Vergnügen, sondern stets einen Kraftakt an Selbstbeherrschung und kontinuierlicher Hartnäckigkeit. Dies gilt vor allem im Hinblick auf seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften, mit dem Musil seit den 20er Jahren ringt. Zwar bestehen zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche Skizzen, doch Musil tut sich schwer, die Pluralität des Ideenmaterials zu synthetisieren. Nur langsam geht die Arbeit voran, nimmt das Material Gestalt an, und als der erste Band 1930 endlich erscheint, ist Musil ein vom Schreibkampf gezeichneter Mann. „Geistig und moralisch erschöpft“, gesundheitlich angeschlagen (Schlaflosigkeit, Herzprobleme) reist er nach Berlin, dessen Anonymität er als heilsam, dessen pulsierende Aktualität er als kreativitätsfördernd erlebt. Und in der Tat tut die Luftveränderung ihre Wirkung: Ein Jahr später erhält Rowohlt die Manuskripte zum zweiten Band des MoE

Als Musil 1933 zurückkehrt nach Wien, wird er noch 9 Jahre zu leben haben, er wird am „Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur“ in Paris teilnehmen (1935), vor einem Publikum von 400 Zuhörern den Vortrag Über die Dummheit halten (1937), er wird den – wie der MoE in die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ aufgenommenen – Nachlaß zu Lebzeiten publizieren (1838), doch sein Hauptanliegen, die Vollendung des MoE, erfüllt sich nicht. Wieder befallen ihn Schreibprobleme, dazu gesellt sich die labile Gesundheit, der Schlaganfall von 1936, die bedrückenden finanziellen Verhältnisse und schließlich der Krieg, der Musil ins Exil, zuerst nach Zürich (1938), dann nach Genf (1939) zwingt. Hier isoliert er sich beinahe völlig, meidet vor allem Schriftstellerkollegen und nimmt nur zu wenigen Menschen Kontakt auf. Zu diesen Auserwählten gehört der 27 Jahre jüngere Bildhauer Fritz Wotruba sowie der protestantische Pfarrer Robert Lejeune, der das Ehepaar finanziell unterstützt und Musil damit das Schreiben ermöglicht. Und tatsächlich: Musil arbeitet weiter am MoE, wenn auch inzwischen zunehmend entmutigt. Er ist von Versagensgefühlen geplagt und zwingt sich dennoch täglich an den Schreibtisch, so auch am Tag seines Todes, als ihn mittags der Gehirnschlag trifft.

 

Der Inhalt des Dargestellten beruht auf folgenden Schriften: W. Berghahn: Robert Musil. Reinbek bei Hamburg 1963; T. Pekar: Robert Musil zur Einführung. Hamburg 1997. R. Willemsen: Robert Musil. Vom intellektuellen Eros. München 1985.

Interessante Links zu Robert Musil:

 

Die Seite der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft hält zahlreiche Materialien zu Musil bereit, so auch Rezensionen zu  neuesten Veröffentlichungen zu Robert Musil: www.musilgesellschaft.at/index.html

 

Die Website des Robert-Musil-Museums in Klagefurt – dem Geburtsort Musils – bietet unter anderem eine Kurzbiografie Robert Musils: www.musilmuseum.at/

 

Die Freie Universität Berlin stellt eine umfassende Linksammlung zu Musil bereit: ub.fu-berlin.de

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